Herausforderndes Verhalten

In Zusammenhang mit Autismus hört man oft den Begriff «herausforderndes Verhalten». Aber was bedeutet das genau? 

Dieser Begriff ist nicht ganz einfach zu definieren. Es gibt in der Literatur viele Bezeichnungen, wie: destruktives Verhalten, aggressives Verhalten, schwere Verhaltensstörungen usw…

Herausfordernde Verhaltensweisen zeigen sich auf vielfältige Art. Als Aggression, wie Beissen, Schlagen, Spucken usw., Destruktion, Nahrungsproblematik, Stereotypien. Sie können gegen aussen oder gegen sich selber gerichtet sein, und sind sie sozial nicht angepasst.

Je nach Erfahrung wird ein solches Verhalten auch ganz anders gewichtet. Es macht einen Unterschied, ob ich in der Psychiatrie arbeite – oder in einem Büro, und nie mit solchen Verhaltensweisen konfrontiert wurde. Wer noch nie in sozialen Einrichtungen gearbeitet hat, steht einem solchen Verhalten meist ziemlich hilflos gegenüber.

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Wir müssen weg von der Idee, dass eine Person uns ihr herausforderndes Verhalten mit Absicht zeigt, sondern die Umwelt dieser Person in das Problem mit einbeziehen.

Herausforderndes Verhalten und der Verlust an Lebensqualität

Menschen mit einem herausfordernden Verhalten sind häufig von freiheitseinschränkenden Massnahmen  (z. B. durch Isolierung und Zwangsmedikation) betroffen, dies oft durch Nichtwissen und Überforderung aller anderen Beteiligten. Denn der Einsatz von Medikamenten führt oft nicht zum erwünschten Verhalten.

Beim Thema «herausforderndes Verhalten» sind immer viele Personen oder Gruppen involviert, jedoch mit unterschiedlichem Interesse – die Person selbst, die das Verhalten zeigt, die Eltern, Betreuungspersonal, Institutionen, die Vormundschaftsbehörden, die Öffentlichkeit usw. Hilfreich ist immer ein enger Austausch unter allen Beteiligten.

Wir Menschen wollen für die Dinge, die wir nicht verstehen, Erklärungen. Wir interpretieren, was wir sehen. Dabei ist uns meist nicht bewusst, dass wir in der Art, wie wir eine Sache betrachten, von unserem eigenen Lebenslauf (unsere Erziehung, frühere Erlebnisse) und unserem fachlichen Hintergrund beeinflusst sind.

Bei der Arbeit mit Menschen mit herausforderndem Verhalten ist es wichtig, unsere Grundhaltung gegenüber diesen Menschen zu hinterfragen, sonst besteht die grosse Gefahr, dass hinter ihrem Verhalten eine negative Absicht vermutet wird.
Wie oft hört man: « …einfach nur schlecht erzogen – verwöhnt – er will mich provozieren – sie macht es extra – nur zu faul – so etwas geht doch nicht… » 

Als Beispiel: eine Mitarbeiterin, die denkt, eine Person sei faul, wird anders vorgehen, als wenn sie für die gleiche Situation davon ausgeht, dass die Person möglicherweise mit einer Aufgabe überfordert ist und sich deshalb mit einer bestimmten Verhaltensweise äussert.
Die Vermutung «faul» führt eher zu restriktiven Massnahmen, was wiederum zu einer Verstärkung des herausfordernden Verhaltens und in einer Spirale zu weiteren negativen Massnahmen führen kann. Ein Kreislauf, der durchbrochen werden muss.

Wir müssen weg von der Idee, dass der Klient herausforderndes Verhalten mit Absicht zeigt, sondern die Umwelt dieser Person mit einbeziehen. Nach 35 Jahren Erfahrung mit Klienten mit herausfordernden Verhaltensweisen lautet unser Motto: der Klient ist nicht das Problem, sondern hat ein Problem und benötigt unsere Unterstützung.

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Für Menschen mit grossen Schwierigkeiten im Verständnis von Kommunikation und sozialer Interaktion sind unsere Verhaltensregeln oftmals alles andere als klar.

Richtiges Verhalten, falsches Verhalten

Unsere Gesellschaft hat viele Werte und Verhaltensnormen verinnerlicht. Warum darf man an einem Fest laut und lustig sein, doch an Grossmutters Beerdigung muss man still sein und darf nicht lachen? Für uns ist das selbstverständlich, aber warum eigentlich? Für die sozialen Verhaltensnormen gibt es keine Schule.

Für Menschen mit Schwierigkeiten im Verständnis von Kommunikation und sozialer Interaktion sind diese Verhaltensregeln oftmals alles andere als klar. Trotzdem erwarten wir von ihnen ein Verhalten, dass sie nicht zeigen können, weil sie es gar nicht verstehen können. Ohne es zu merken, überfordern wir sie mit unseren Erwartungen.

Sandra ist nonverbal. Zuhause geht sie an den Kühlschrank und nimmt sich, worauf sie Lust hat. Sie versteht nicht, dass sie im Wohnheim nicht alleine an den Kühlschrank darf. Wir nehmen ihr Verhalten wahr und reagieren meist sehr schnell mit einem Verbot, zeigen Sandra aber nicht, wie sie vorgehen könnte. Das «wie» ist aber komplex und bedarf viel Fachwissen. Wie können wir Sandra erklären, dass sie «nach etwas fragen» soll. Und wie «danach fragen», wenn sie keine Kommunikation hat?

Warum schüttelt man sich die Hand? Wen darf man berühren und wen nicht? Jan hat keinen Zugang zu Kommunikation. Er versteht soziale Interaktionen nicht, aber er kann gut nachahmen. So sieht er, dass sich Menschen immer wieder die Hände geben. Er ahmt dies nach und packt die Hände der Menschen um ihn herum. Dabei unterscheidet er nicht zwischen bekannten und fremden Personen. Sein Krafteinsatz ist möglicherweise zu heftig. Vielleicht umarmt er die Menschen sogar.

Wie soll man dem nonverbalen Thomas erklären, dass er die Hefte am Kiosk nicht einfach nehmen darf? Piktogramme lösen dieses Problem nicht. Wie vermittelt man einem Menschen ohne Zugang zur Kommunikation (weder Sprache, Schrift, oder Gebärden…) mit einem Piktogramm die Botschaft «du darfst dies nicht»?

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Wenn wir mit Menschen mit Autismus arbeiten, sollten wir auch immer ihre individuellen Interessen berücksichtigen, damit sie die Bereitschaft für einen Lernprozess aufbringen.

Die professionelle Intervention

Wie man sich nun vielleicht vorstellen kann, benötigt die Arbeit mit herausforderndem Verhalten viel Erfahrung und Fachwissen. Eine professionelle Intervention befasst sich mit den Ursachen des Verhaltens und arbeitet mit den Stärken der Person. Von den Durchführenden verlangt sie neben den Fach- und Methodenkompetenzen ein positives Menschenbild und eine grosse Bereitschaft zur Selbstreflexion. Denn, sehr häufig sind wir selber der Auslöser des Verhaltens, ohne es zu wissen.

Bei jeder Intervention geht es darum, den Grund herauszufinden, warum die Person ein Verhalten zeigt. Anders gesagt: die Funktion dieses Verhaltens zu eruieren und dem Kunden ein alternatives Verhalten anzubieten.

Es gibt meist keine schnelle Lösung

Auch mit viel Erfahrung sollte man sich nicht vorschnell auf einen Grund für ein Verhalten festlegen. Niemals dürfen wir ein Verhalten interpretieren und unsere Behauptung als Grundlage für eine Intervention erzwingen. Es braucht von uns viel Flexibilität. Ansonsten haben wir schon den falschen Weg eingeschlagen.

Das ist manchmal schwieriger, als man denkt, denn wir Menschen sind Weltmeister im Interpretieren und Behaupten. Eine falsche Vermutung führt schnell zu falschen Strategien. Der Leidtragende ist immer der Klient.

Motivation individuell aufbauen

Wer kennt es nicht, dieses Bild von Teenagern: helfen im Haushalt? Lernen für die Schule? Aufstehen am Morgen? Bei solchen Erwartungen steht man höchstwahrscheinlich einem lustlosen und schlaffen jungen Menschen gegenüber. – Aber dann kommt der Freitagabend! Plötzlich verwandelt sich das Menschenkind in ein feuriges Energiebündel. Da wird stundenlang anprobiert, frisiert, Nägel lackiert, geschminkt… und alles ohne Pause!

Motivation ist die Grundlage unserer Handlungen. Wenn wir mit Menschen mit Autismus arbeiten, sollten wir auch immer ihre individuellen Interessen berücksichtigen, damit sie die Bereitschaft für einen Lernprozess aufbringen.

Quellenverzeichnis

DSM-5, Abkürzung für «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», ist in den USA und Europa ein diagnostischer und statistischer Leitfaden für psychische Störungen.

Dunn, M. et al., «Autism spectrum disorders», zitiert in: I. Rapin and S. Segalowitz (Eds) «The Handbook of Neuropsychology Vol 8: Child Neuropsychology», Elsevier, Amsterdam 2003.

Dunn, M., zitiert in «Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter». AWFM online, Portal der wissenschaftlichen Medizin, Berlin 2021.

Ghislain Magerotte et Eric Willaye, «Évaluation et Intervention Aupres des Comportements Défis Deficience Intellectuelle et Autisme», De Boeck Supérieur 2014.

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