Wahrnehmung und Lebensqualität

Zu den Autismus-Diagnosekriterien in der DSM-5 gehört seit 2013 auch die Wahrnehmung – aus dem Grund, weil autistische Menschen oft anders auf Sinnesreize reagieren.

Sabine erschrickt sehr häufig, auch bei leisen Geräuschen. Sie hört Dinge, die wir gar nicht wahrnehmen, zum Beispiel das Summen von Neonröhren. Bei Berührungen zuckt sie oft zusammen. Sie empfindet diese als unangenehm, manchmal tut es ihr sogar weh, wenn jemand sie anfasst.

Nils wiederum ist von Licht sehr schnell geblendet. Er sieht den Staub in der Luft, wie glitzernde Sterne und ist oft ganz versunken in deren Betrachtung.

Sabine und Nils nehmen Reize mehr als gewöhnlich war. Sie sind beide überempfindlich, was man auch hyperreaktiv nennt.

Holgers Eltern haben Angst, ihr Kind alleine auf die Strasse zu lassen, denn es hört und sieht oft ein herannahendes Auto nicht. Jasmin verletzt sich manchmal, ohne es zu merken.

Holger und Jasmin sind unterempfindlich, in der Fachsprache heisst dieser Zustand hyporeaktiv. Sie nehmen Reize weniger wahr als gewöhnlich.

Besonderheiten in der Verarbeitung von Sinnesreizen haben nicht nur autistische Menschen, aber bei ihnen ist der Anteil besonders hoch. Über 80% der Personen mit einer Autismus Spektrum Störung zeigen sensorische Besonderheiten. Auch Temple Grandin, eine bekannte Autistin, ist davon betroffen. Sie baute sich selber eine Pressmaschine, mit der sie sich regelmässig «zusammenquetschte», um sich besser spüren zu können.

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Besonderheiten in der Verarbeitung von Sinnesreizen haben nicht nur autistische Menschen, aber bei ihnen ist der Anteil mit über 80 Prozent besonders hoch.

Diese Besonderheiten in der Wahrnehmungs-Verarbeitung können zu Verhaltensweisen führen, die eine Person beruhigen, oder sie, im Gegenteil, stimulieren:

• die Finger vor den Augen hin- und herbewegen
• mit dem Körper vor- und zurück schaukeln
• einen Lichtschalter immer wieder an- und auszuknipsen
• sich übermässig zu kratzen
• und vieles andere mehr…

Diese «andere Art der Wahrnehmung» kann für eine Person grosse Auswirkungen auf ihren Alltag haben. Nehmen wir an, der taktile oder der Riechsinn ist überempfindlich, was die Freude am Duschen beträchtlich trüben kann. Vielleicht ist der Wasserstrahl oder Waschlappen auf der Haut schmerzhaft, oder der Duft des Duschgels ist sehr unangenehm. Und so beginnt jeder Tag für diese Person als erstes mit einer schwierigen Aufgabe; der Körperpflege.

Und wenn diese Person keine Sprache hat, kann sie nicht sagen: «Aua, das tut mir weh» und beginnt womöglich, um sich zu schlagen. Wenn sie antizipieren kann – also schon im Voraus weiss, dass bald das Duschen kommt – ist sie schon vorher gestresst. Für das Personal ist es dann sehr schwierig, den Zusammenhang zum Duschen zu erkennen. Mitarbeitenden würde es sehr helfen, wenn sie die möglichen Ursachen hinter diesem Verhalten verstehen.

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Wenn wir sehr genau die Wahrnehmungs-Verarbeitung bei einer Person mit Autismus anschauen, dann können wir sie ganz gezielt im Alltag unterstützen.

Wir sind Individualisten – auch mit unserer Wahrnehmung

Die Wahrnehmung ist ein faszinierender und sehr komplexer Vorgang, und sie macht es uns nicht einfach, zu erkennen, welche Wahrnehmungs-Besonderheiten eine Person hat. Denn es ist nicht so, dass ein Mensch entweder hypo- oder hyperreaktiv ist. Es ist durchaus möglich, dass er bei einem Sinn überempfindlich ist, und bei einem anderen genau im Gegenteil.

Winnie Dunn, eine amerikanische Autismusforscherin, definiert vier Verarbeitungsmuster:

Hyperreaktiv – ich nehme Reize sehr stark wahr. Manchmal habe ich aber auch die Möglichkeit, diese zu vermeiden. Das heisst nach Dunn «Reize vermeiden».

Hyporeaktiv – ich nehme Reize und damit meine Umwelt zu wenig wahr. Vielleicht kann ich diese aber gezielt suchen; Dunn definiert dies als «die Suche nach Reizen».

So reagiere ich bei einer Lichtquelle entsprechend anders: ich werde geblendet, kann aber nicht reagieren (ein Beispiel für «Hyperreaktivität»). Oder ich vermeide diesen Reiz, indem ich die Augen schliesse, meine Hände vor die Augen halte… («Reize vermeiden»). Oder aber ich spiele mit dem Licht! («Suche nach Reizen»). Ein Objekt auf dem Tisch nehme ich dagegen gar nicht wahr… («Hyporeaktivität»).

Vielleicht merke ich nicht, wenn man mich berührt, oder aber ich verweigere jede Art von Berührungen, weil diese zu intensiv, unangenehm bis schmerzhaft für mich sind.

Nur, wenn wir die Wahrnehmungs-Verarbeitung bei einer Person mit Autismus sehr genau evaluieren, können wir sie gezielt im Alltag unterstützen.

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Autisten ignorieren nicht die gesprochene Sprache, sondern den Support der Sprache, also die Töne. Die Förderung der Sprache muss für sie ganz anders aufgebaut werden.

Ist unser Kind vielleicht taub?

Die Eltern von Benjamin sind besorgt – ist ihr Kind womöglich hörbehindert? Benjamin reagiert nicht, wenn sie seinen Namen rufen! Benjamins Problem liegt aber ganz woanders. Er ist Autist und leidet unter Wahrnehmungs-Besonderheiten.

Obwohl es manchmal nicht so scheint, funktionieren Benjamins Augen, Ohren und anderen Sinnesorgane einwandfrei. Ganz gewöhnlich nehmen seine Ohren Töne, die als Schallwellen bei ihnen ankommen, auf, wandeln sie in elektrische Signale um und leiten diese an das Gehirn weiter. Aber irgendwo auf ihrer Wanderung in Benjamins Kopf, in der die Signale vom Gehirn verarbeitet werden, kommt es zu einer Störung. Benjamin bekommt von seinem Gehirn keine eindeutige Information, dass sein Name gerufen wird. Und so dreht er auch nicht seinen Kopf zu seinen Eltern. 

Eigentlich ignorieren Autisten nicht die Sprache, sondern den Support der Sprache, also die Töne. Für uns ist es sehr bedeutsam, dies zu wissen, weil dann die Förderung der Sprache bei diesen Menschen ganz anders aufgebaut wird.
Diese Störung zeigt sich bei nonverbalen Menschen in unangepassten Verhaltensweisen. Oft werden diese von uns falsch interpretiert. Sie zu erkennen ist wichtig, wenn wir diese Menschen begleiten und unterstützen wollen.

Quellenverzeichnis

DSM-5, Abkürzung für «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», ist in den USA und Europa ein diagnostischer und statistischer Leitfaden für psychische Störungen.

Dunn, M. et al., «Autism spectrum disorders», zitiert in: I. Rapin and S. Segalowitz (Eds) «The Handbook of Neuropsychology Vol 8: Child Neuropsychology», Elsevier, Amsterdam 2003.

Dunn, Winnie, «Sensory Profile 1» und «Sensory Profile 2», Pearson Education, 2014.

AWFM online, Portal der wissenschaftlichen Medizin «PDF Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 2: Therapie». Berlin 2021.

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